Scheidung
Der Kampf ums Kind geht weiter
Text: Conny Schmid
Bild: Jupiterimages
Wäre bei Scheidungen ein gemeinsames Sorgerecht besser fürs Kind? Die Elternorganisationen streiten sich. Die Fronten scheinen verhärtet wie bei einer Kampfscheidung.
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Wenn Mama und Papa auseinandergehen: Kinder wünschen eigentlich nur eines - dass alles wieder wird wie früher. |
Nicht selten endet, was voll Liebe und Zuversicht begann, im erbitterten Streit:
Knapp die Hälfte aller Ehen in der Schweiz werden geschieden. Gibt es gemeinsame
Kinder, so muss das Sorgerecht zwingend neu geregelt werden. Meist wird es der
Mutter zugesprochen. Bei jeder zehnten Scheidung kommt es zum Kampf ums
Sorgerecht. Am Ende bleiben oft nur Verlierer: ein Vater, der bezahlen darf,
aber nicht mitreden; eine Mutter, die nicht selten am Rand des Existenzminimums
den Alltag allein bestreitet; Kinder, denen ein Elternteil fehlt und die
eigentlich nur eines möchten - dass alles wieder wird wie früher (siehe auch
Artikel zum Thema: Scheidung: «Es ist schwierig, Kind zu bleiben»).
Seit vor acht Jahren das neue Scheidungsrecht in Kraft trat, ist die gemeinsame
elterliche Sorge möglich. Bedingung hierfür ist aber, dass beide Elternteile
sich einverstanden erklären. «Weil die Mutter meist damit rechnen kann, im
Zweifelsfall das Sorgerecht zu erhalten, besitzt sie de facto ein Vetorecht
gegen die gemeinsame Sorge», kritisiert Oliver Hunziker. Der Präsident der
Schweizerischen Vereinigung für gemeinsame Elternschaft (Gecobi) fordert, dass
in der Schweiz das gemeinsame Sorgerecht als Regel eingeführt wird. Es soll bei
einer Trennung automatisch von Gesetzes wegen gelten. Die Idee: Nicht das
gemeinsame Sorgerecht sollte bei einer Trennung beantragt werden müssen, sondern
das alleinige. «Eltern bleiben Eltern, auch wenn sie getrennte Wege gehen. Die
heutige Praxis führt dazu, dass Väter ihre Kinder und Kinder ihre Väter
verlieren», argumentiert Hunziker. Das gemeinsame Sorgerecht wäre deshalb vor
allem auch zum Wohle des Kindes.
Die Mutter ist Bezugsperson Nummer eins
Gut möglich, dass diese Forderung bald umgesetzt wird. Das Scheidungsrecht steht
vor einer weiteren Revision, das Bundesamt für Justiz erarbeitet derzeit einen
Gesetzesentwurf, der voraussichtlich im Oktober in die Vernehmlassung geht. Die
Sorgerechtsregelung ist dabei einer der zentralen Punkte. Noch ist allerdings
nicht klar, ob und in welcher Form ein gemeinsames Sorgerecht als Regelfall
aufgenommen wird.
So vehement die eine Seite - vor allem Organisationen geschiedener Väter - das
gemeinsame Sorgerecht fordert, so klar lehnt es die andere Seite ab. Anna
Hausherr, Zentralsekretärin des Schweizerischen Verbands alleinerziehender
Mütter und Väter (SVAMV), bezweifelt, dass eine solche Regelung die Probleme
zwischen Geschiedenen löst. «Es ist unbestritten, dass Väter sich vermehrt an
der Betreuung ihrer Kinder beteiligen sollen, auch nach der Scheidung. Doch das
automatische gemeinsame Sorgerecht ist dafür nicht das richtige Mittel», sagt
sie.
Besser wäre es, wenn Paare bei der Geburt des Kindes eine entsprechende
Vereinbarung träfen und sich dann bereits auch mit einer allfälligen späteren
Trennung auseinandersetzten. Noch immer würden nämlich mehrheitlich
traditionelle Familienmodelle gelebt, auch bei geschiedenen Eltern, die das
gemeinsame Sorgerecht heute schon ausüben. Will heissen: Die Mutter sorgt für
Kinder und Haushalt und geht höchstens einer Teilzeitarbeit nach, der Vater
arbeitet Vollzeit. Damit leistet die Mutter einen Grossteil der Kinderbetreuung
und teilt das Sorgerecht mit einem Vater, der den Alltag der Kinder kaum kennt.
Konflikte sind programmiert.
In einer Befragung getrennt lebender Eltern im Jahr 2003 wünschte sich jede
dritte Mutter mit gemeinsamem Sorgerecht im Nachhinein eine andere Regelung.
«Wer faktisch die Kinder allein grosszieht, aber dennoch für fast alle den
Nachwuchs betreffenden Entscheide das Einverständnis des ehemaligen Partners
einholen muss, ist verständlicherweise frustriert», erklärt der Jurist Linus
Cantieni, operativer Leiter der Studie. Es sei ein Trugschluss zu glauben, die
gleichmässige Verteilung von Elternrechten führe automatisch zu einer besseren
Situation für die Kinder. «Es kommt vielmehr auf die tatsächliche
Betreuungsleistung der Eltern an.»
Gemeinsames Sorgerecht: in Europa normal
Dies zeigt der Blick ins Ausland. Cantieni hat unter anderem die verschiedenen
Sorgerechtsregelungen in Europa verglichen. Meist gilt heute das gemeinsame
Sorgerecht als Regelfall. Es gibt aber grosse Unterschiede in der jeweiligen
Ausgestaltung. «In einigen Ländern liegen die Entscheidungskompetenzen für
Kinderbelange trotz gemeinsamem Sorgerecht mit wenigen Ausnahmen beim
hauptbetreuenden Elternteil. Doch es gibt auch Länder, in denen der
hauptbetreuende Elternteil die Alltagsangelegenheiten des Kindes zwar allein
entscheiden darf, für die restlichen Entscheidungen aber auf die Zustimmung des
anderen Elternteils angewiesen ist», erklärt Cantieni. Zur ersten Gruppe gehört
etwa England, zur zweiten Deutschland. Das zweite Modell berge deutlich mehr
Konfliktpotential. «Derjenige Elternteil, der das Kind nicht hauptsächlich
betreut, muss für sehr viele Entscheidungen einbezogen werden. Häufig ist aber
unklar, bei welchen Entscheidungen dieser Elternteil mitbestimmen darf. Das
führt natürlich auch oft zu Streit unter den ehemaligen Eheleuten.»
Das gemeinsame Sorgerecht ist also nicht automatisch besser für das Kind. «Es
gibt keine Studie, die etwa belegen würde, dass die Kinder nur wegen des
gemeinsamen Sorgerechts mehr Kontakt haben zum nicht hauptbetreuenden
Elternteil. Oder dass sich dessen Zahlungsmoral oder die
Kooperationsbereitschaft verbessert», so Cantieni. Verantwortungsbewusstsein,
Liebe und Fürsorge lassen sich nicht verordnen.
Trotzdem befürwortet der Jurist die Einführung des gemeinsamen Sorgerechts als
Regelfall. Er setzt auf die psychologische Wirkung: Väter sollen sich auch nach
einer Scheidung genauso verantwortlich für ihre Kinder fühlen. Zudem sei die
heutige Regelung alles andere als befriedigend, weil sie Verlierer und Gewinner
schaffe. Besser wäre es, so Cantieni, die Sorgerechtsfrage durch die Einführung
der automatischen gemeinsamen Sorge komplett aus dem Scheidungsverfahren
auszuklammern, aber die Entscheidungskompetenzen der Eltern in einem klaren
Katalog im Gesetz festzuschreiben. Dadurch sollen Konflikte, wer über was
entscheiden darf, reduziert werden. Einen entsprechenden Vorschlag hat er
bereits eingereicht.
Doch dieser stösst nicht überall auf Gegenliebe. Im Dachverband der Schweizer
Familienorganisationen, Pro Familia, will man ihn als Diskussionsbasis nehmen,
ist sich aber noch uneins. «Wir werden erst bei der Vernehmlassung Stellung
nehmen», sagt Generalsekretärin und CVP-Nationalrätin Lucrezia Meier-Schatz. Sie
deutet an, dass das gemeinsame Sorgerecht intern teils auf Fundamentalopposition
stösst.
Anna Hausherr vom SVAMV, die zudem Vorstandsmitglied bei Pro Familia ist, findet
die relativ weitreichenden Möglichkeiten, gegen Entscheide des anderen
Elternteils via Vormundschaftsbehörde vorzugehen, in Cantienis Vorschlag «nicht
praktikabel». Es gäbe sehr viele Einsprachemöglichkeiten für den nicht
hauptbetreuenden Elternteil, etwa bei einem Wohnsitzwechsel oder wenn ein Kind
eine gefährliche Sportart ausüben möchte.
«Verwässerung der Idee»
Gecobi-Präsident Oliver Hunziker auf der anderen Seite empfindet den Katalog von
Entscheidungskompetenzen als «Verwässerung der Idee der gemeinsamen elterlichen
Sorge». Bei Uneinigkeiten sollte besser Mediation verordnet werden, findet er
(siehe auch Nebenartikel «Kampfscheidung: «Eingreifen, wenns emotional wird»,
oben).
Die Diskussion scheint entlang der bekannten Linien zu verlaufen: Die eine Seite
empfindet es als richtig, wenn die Mutter als Hauptbetreuerin der Kinder auch
juristisch eine stärkere Position erhält. Die andere fühlt sich benachteiligt,
machtlos und möchte zu ihrem Recht kommen. Bleibt zu hoffen, dass das Kindswohl
in dieser Debatte am Ende nicht zu kurz kommt.